Rückblick 2021: Expertentalk

Veröffentlicht von jw am

Die Nominierten des Grimme Online Award haben viel zu sagen – besonders über ihre Projekte. Bei GOA talks geben sie Einblick in ihre Motivation, in die Verantwortung, die sie tragen, oder sie berichten über die Rückwirkung auf sie selbst. Es lohnt sich zuzuhören, wie die Gespräche aus dem November 2021 zeigen.

Motivation

So taucht bei uns immer die Frage nach der persönlichen Motivation auf, ein Projekt zu starten und dranzubleiben. Julia Oelkers, (mit-)verantwortlich für „Eigensinn im Bruderland“ und „Gegen uns.“, treibt eine große Neugier an. Bei jedem ihrer Projekte würde sie viel lernen. „Die Position als Journalistin erlaubt mir, Fragen zu stellen, die ich in einem privaten Gespräch nie stellen würde“, sagt sie – und es sei spannend, die verschiedenen Perspektiven zu hören.

Eva Deinert, die vor „Die Befreiung“ schon ein anderes Geschichtsprojekt verantwortet hatte, macht es Spaß, sich tief in den Stoff zu graben und dann die Puzzlesteine zusammenzusetzen, bis sie Geschichten ergeben, die noch nicht so oft erzählt wurden.

Auch bei Christina Brinkmann, einer der beiden Verantwortlichen für den Podcast „Halle nach dem Anschlag“, gab es eine lange Vorgeschichte. Sie und Valentin Hacken hatten lange bei Radio Corax beziehungsweise „Halle gegen Rechts“ gearbeitet. Daraus entstand die Idee, die Öffentlichkeit für den Prozess gegen den Attentäter noch einmal zu verstärken – mit einem Podcast, der dann auch auf kommerziellen Plattformen veröffentlicht wird, um noch mehr Menschen zu erreichen.

Beim Podcast „190220 – Ein Jahr nach Hanau“ kam die Idee ursprünglich von der Plattform Spotify, so berichtet Reporterin Alena Jabarine. Der Gedanke, darüber aber den Mainstream zu erreichen, war eine große Motivation für sie.

Ebenfalls von außen angestoßen wurde das Projekt „Jeder Vierte“, so berichtet Marco Reinke. Es handelt sich um das große Projekt in der Journalistenausbildung von Axel Springer. „Uns wurde in der Akademie für unser Projekt nur das Wort ‚Antisemitismus‘ hingeworfen“, so Marco Reinke. Daraus entstand schnell die Idee, nicht die „großen“ Fälle aufzugreifen, sondern dorthin zu blicken, wo Antisemitismus vermeintlich im Kleinen stattfindet, und es konsequent aus Sicht der jüdischen Menschen zu zeigen.

Wo sich die Journalistenschüler*innen in die Sicht der Betroffenen versetzen müssen, war es für Ciani Sophia Hoeder, Gründerin des „RosaMag“ eine komplett intrinsische Motivation, so berichtet es Celia Parbey im Gespräch bei GOA talks. Sie wollte „ein Magazin für schwarze Frauen, was sie empowert und was Schwarzsein auch zelebriert“. Wenn man sonst in den Medien etwas über das Schwarzsein läse, sei es immer negativ konnotiert, es ginge nur um schlechte Erfahrungen in einer weißen Mehrheitsgesellschaft. Das „RosaMag“ hingegen feiere schwarze Lebensrealitäten und bilde auch so viele wie möglich davon ab.

Bei Floriane Azoulay, Leiterin der Arolsen Archives, liegt der Anstoß für „#StolenMemory“ Jahre zurück: „Als ich vor fünf Jahren hier angefangen habe, habe ich festgestellt, da sind immer noch sehr viele persönliche Gegenstände in den Archiven“, erzählt sie. „Mir war klar: Das gehört nicht hierher, wir müssen unbedingt die Angehörigen finden und diese persönlichen Effekten zurückgeben.“

Medium und Form

75 Jahre nach Kriegsende ist diese Suche aber sehr schwer. Für Floriane Azoulay war deshalb die Verbreitung über Online-Medien eine absolute Notwendigkeit: „Dank Social Media, Internet und viel Medienaufmerksamkeit haben wir wesentlich bessere Chancen, die Familien zu finden.“ Die gewählte Ich-Form der Filme mache es nachvollziehbarer und persönlicher. Und doch gab es Diskussionen im Team, ob man die Ich-Form verwenden dürfe, da man fiktive Elemente einbauen würde. „Wir sind ein Archiv, es geht um historische Fakten“, sagt Floriane Azoulay, „für mich war aber klar: Wir müssen das Risiko eingehen, die Ich-Form nehmen und so nah wie möglich an den Dokumenten bleiben.“ Solange man es transparent mache, dürfe man fiktive Elemente einfügen.

Über die reine Reichweite hinaus hat die Verbreitung im Internet aber auch andere Vorteile. „Dadurch, dass die Leute das Tempo selbst bestimmen können, nehmen sie mehr mit als in einem Film“, meint Julia Oelkers. Dem pflichtet Eva Deinert bei und berichtet von einem Prototyp-Test der AR-App zu „Die Befreiung“ mit Schüler*innen vor Ort: „Die Schulklasse fand es besser als die Führung, weil sie es in ihrem eigenen Tempo machen können.“ Wichtig sei es, die Nutzerin und den Nutzer gleich mitzudenken, so dass bei ihnen das Gefühl entstehe, sie erarbeiten sich die Inhalte.

Die Form der „Hong Kong Diaries“ war zunächst einmal den Umständen geschuldet. Bei diesem Abschlussprojekt der FreeTech – Axel Springer Academy of Journalism and Technology war das Thema „Hongkong“ vorgegeben. Der Projektbeteiligte Jonas Feldt berichtet, dass der Gruppe der Volontäre sofort klar war, dass sie nicht nach Hongkong reisen konnten – wegen Corona und weil sie ohnehin kein Journalistenvisum bekommen hätten. So mussten sie sich eine Form überlegen, einen Zugang zu schaffen – indem die Protagonist*innen sich selbst und ihre Aktivitäten filmten.

Verantwortung

Daraus durfte aber keinesfalls eine Gefahr für die Personen vor Ort entstehen. „Es hatte bei uns oberste Priorität, dass unsere Kontakte in Hongkong nicht verhaftet werden“, erzählt Jonas Feldt, „wir haben nur über verschlüsselte Kommunikationsmöglichkeiten kommuniziert.“ Drei der Protagonist*innen seien überdies nur anonym aufgetreten – trotzdem hat sich die Lage so zugespitzt, dass keiner der Aktivist*innen noch in Hongkong ist.

Gerade bei den doch schweren Themen, die die Gesprächspartner*innen bei GOA talks in ihren Projekten bearbeitet haben, spielt die Verantwortung gegenüber den Protagonist*innen eine große Rolle. „Es macht einen großen Unterschied, ob es für das Internet ist oder fürs Fernsehen“, sagt Julia Oelkers, „weil es im Internet eine ganz andere Präsenz hat und auch in anderen Ländern verfügbar ist“, das spiele besonders für Migrant*innen eine große Rolle. Man müsse zunächst Vertrauen schaffen, damit sie sich überhaupt öffnen – und man müsse sie auch vor möglichen Angriffen zu schützen versuchen. Im Format Podcast sieht Alena Jabarine hingegen einen großen Vorteil gegenüber dem Fernsehen, „wäre man mit einer Kamera, einem Tonmann und einem Lichtmenschen bei den Betroffenen eingefallen, das wäre schwierig gewesen“. Dies besonders auch, weil die Angehörigen der Opfer des Anschlags von Hanau vorher teilweise schlimme Erfahrungen mit Medien gemacht hatten.

Rückwirkung

Alena Jabarine kannte die Situation, vor Ort mit Betroffenen zu sprechen, schon von anderen Reportagen, deshalb hatte sie Vertrauen in sich selbst, dass sie es schaffen würde. „Es war aber noch mal eine Nummer härter in Hanau“, erzählt sie, „weil die Tat noch sehr frisch war, als wir da waren.“ Eva Deinert wusste, dass sie ein Geschichtsprojekt, das sich mit dem Holocaust beschäftigt, an ihre Grenzen bringen würde, denn dieses Thema hatte sie schon in der Schulzeit stark belastet.

Marco Reinke und Celia Parbey haben durch ihre Arbeit an den Projekten in erster Linie ihr Wissen erweitert: „Ich habe viel gelernt über schwarze Menschen in Deutschland“, meint Celia Parbey, natürlich wusste sie vorher schon einiges, aber ihr hätten sich andere Lebensperspektiven erschlossen – auch über die Arbeit in einer schwarzen Redaktion, die es sonst im Journalismus in Deutschland nicht gebe. Marco Reinke hat die Arbeit an „Jeder Vierte“ in erster Linie dabei geholfen, ein Bild davon zu bekommen, wie groß das Antisemitismus-Problem eigentlich sei. Am meisten schockiert habe ihn dabei, wie schnell sie in der Recherche so viele Situationen zusammenbekommen hätten.

Reaktionen

Über positive Reaktionen von Rezipient*innen hinaus fühlten sich Marco Reinke und das gesamte Team besonders bestätigt von zahlreichen Anfragen aus dem Bildungsbereich, von Schulen und Hochschulen, die das Material aus „Jeder Vierte“ nutzen wollten. Floriane Azoulay freut sich nach der Social-Media-Kampagne über sehr viele Jugendliche, die sich an der Suche nach Angehörigen beteiligen: „Wir haben gerade in Polen unglaublich aktive und effektive Jugendgruppen, die viele Familien wiedergefunden haben.“

Und alle der Gesprächspartner*innen bei GOA talks waren immerhin für einen Grimme Online Award nominiert oder haben letztendlich einen Preis bekommen. Verdient.