Aus der Chronik des Grimme Online Award: Mehr, neu, anders – Teil 1
Entwicklung journalistischer Formate und Inhalte
Wenn wir für unser Grimme Lab zu Themen recherchieren, nehmen wir dies oft zum Anlass, einen Blick ins Archiv des Grimme Online Award zu werfen. Hier werden wir zu fast jedem Aspekt der Mediengesellschaft fündig, denn der GOA beobachtet seit annähernd 25 Jahren alles, was sich im Bereich der Netzpublizistik als herausragend erwiesen hat.
Bei unserer jetzigen Sichtung sind wir über eine große Menge an Beiträgen von Sendern, Redaktionen, einzelnen Journalistinnen und Journalisten, aber auch anderer Anbieter gestolpert, die im Laufe der Jahre immer wieder neue, innovative, manchmal ungewohnte Wege beschreiten, um die Qualität von Journalismus zu steigern.
Deshalb haben wir uns prompt dazu entschlossen, eine Artikelreihe genau hierzu zu veröffentlichen und zu dokumentieren, wie journalistische Akteurinnen und Akteure (und andere) die Netzentwicklungen im Verlauf der vergangenen fast 25 Jahre auf je ihre Weise für Berichterstattung und Hilfe zur Meinungsbildung in der Mediengesellschaft genutzt haben.
Grimme Online Award & Medienqualität
Im Kontext des Grimme Online Award über Medienqualität zu sprechen, ist tatsächlich ein wenig … erwartbar? Denn:
„Der Grimme Online Award versteht sich als Qualitätspreis für Online-Publizistik. Er prämiert deutschsprachige Online-Angebote, die sich an die allgemeine Öffentlichkeit richten. Mit der jährlichen Auszeichnung herausragender Formen und Entwicklungen öffentlicher Kommunikation und Information bietet der Grimme Online Award Anbieter*innen und Nutzer*innen eine beispielhafte Orientierung für publizistische ‚Qualität im Netz.‘“aus dem Statut des Preises
Wenn wir also schlicht all die nominierten und ausgezeichneten Beiträge vorstellen wollten, die sich im Laufe der Jahre in diesem Zusammenhang hervorgetan haben, könnten wir an dieser Stelle Links auf die GOA-Archivseiten setzen und uns das genauere Hinsehen ersparen. Von Anfang an ging es beim Grimme Online Award darum, wie publizistisch Tätige ihre Arbeiten konzipieren, umsetzen und weiterentwickeln – auch wenn die Anfangsjahre mittlerweile dermaßen zurückliegen, dass sich manche Innovation heute nicht mehr auf den ersten Blick erschließen mag. Eingebettet in die jeweilige Zeit sieht das alles ganz anders aus:
„Mit dem Blick auf 20 Jahre Grimme Online Award fällt auf: Nicht nur Trends, sondern tatsächliche Entwicklungslinien wurden sichtbar gemacht und durch die Statements der Nominierungskommission und Jury eingeordnet. Bevor YouTube 2005 startete, wurde zum Beispiel im Jahr 2001 Bitfilm prämiert: ‚Die Plattform steht prinzipiell allen kreativ tätigen ‚Produzenten‘ zur Verfügung, die hier eigene Angebote ins Netz stellen können. Die Grimme-Jury zeichnet die Site nicht zuletzt deshalb aus, weil sie neue Wege beschreitet, aus Konsumenten ‚Produzenten‘ zu machen.‘ Videos, Blogs, Multimedia-Specials, Apps, Virtual Reality, Podcasts, Streaming, Instagram-Stories, TikTok: Stets wird geprüft, ob Trends bereits durch gute Angebote publizistisch vertreten und preiswürdig sind.“
Kai Heddergott in der grimme 2020, S. 15 (PDF)
Für uns geht es hier um Angebote von Redaktionen, Sendern und einzelnen Journalistinnen und Journalisten, die mit neuen Konzepten und Formaten, Multimediaseiten, Datenjournalismus und vielem anderen mehr arbeiten, um den Nutzerinnen und Nutzern Themen auf innovative Weise nahe zu bringen. Auch diese Beiträge zur Qualität von Journalismus bzw. Netzpublizistik lassen sich durch alle Jahrgänge des Grimme Online Award verfolgen, weshalb wir einiges zusammenfassen bzw. vernachlässigen müssen, um den Rahmen nicht vollends zu sprengen.
Die Anfänge
So beschränken wir uns für die allerersten Jahre auf den Hinweis, dass in jener Zeit überwiegend Websites zu Printmedien und Sendungen entstanden, die die Inhalte der jeweiligen Formate ins Internet „übersetzten“ und durch zusätzliche Inhalte und Angebote ergänzten. Hier zählen etwa in der damaligen Kategorie „TV“: MTV Online, n-tv.de, schmidt.de (2001), 2002 in verschiedenen Kategorien: DasDing (Jugendmediaprojekt des SWR), Stammzellen (WDR), jetzt.de – Das Jugendmagazin der Südeutschen Zeitung im Internet, Was guckst Du?! (SAT.1) sowie im Jahr 2003: Käpt’n Blaubär (WDR), LexiTV (MDR), Östlich der Sonne (WDR) und Der Mietmensch (für das ZDF). (Leider sind die meisten dieser zugegebenermaßen recht alten Angebote nicht mehr abrufbar.) Gemeinsam ist diesen Beispielen, dass sie das an anderer Stelle bereits Vorhandene nicht lediglich fürs Netz dupliziert, sondern teils erheblich durch zusätzliche Informationen und Angebote erweitert haben – so, wie es damals eben möglich war.
Dass es sich bei der Auswahl der herausragenden Arbeiten pro Jahrgang bei allem Gespür für sich abzeichnende Entwicklungen und einem strengen Blick auf Qualität nur um jeweilige Momentaufnahmen handeln konnte, war allen Beteiligten von Anfang an klar. Stillstand im Netz war nie zu beobachten. Bereits die erste Jury im Jahr 2001 sagte:
„Vielleicht wird man in 30 Jahren nur noch müde lächeln über die Seiten, die nun den ersten Grimme Online Award erhalten. Aber wir sind überzeugt, dass erstens Ideen ausprobiert werden müssen und scheitern dürfen; zweitens motiviert es Macher, auf Qualität zu zielen, wenn Ansätze honoriert werden.“Zitiert aus: grimme 2010 – 10 Jahre Grimme Online Award, S. 4
Neben einer Fülle von Einzelproduktionen gehörten ganze Senderauftritte im Netz, verschiedene ihrer Kanäle sowie Zeitungsredaktionen seit den Anfangsjahren zu den Nominierten und Gewinnern des Grimme Online Award. In den ersten beiden Jahren waren dies bereits (unter anderem):
2001
2002
- ARTE
- BR-alpha
- DW-WORLD.DE
- Telepolis, Verlag Heinz Heise
- jetzt.de – Das Jugendmagazin der Süddeutschen Zeitung im Internet
Selbstverständlich gab es beim GOA auch damals schon die, die sich entweder medienjournalistisch oder medienpraktisch mit diesen Entwicklungen auseinandergesetzt und die Möglichkeiten ausgelotet haben, etwa „Onlinejournalismus.de“ (2001), das Altpapier (damals „Altpapier der Netzeitung“) und die Initiative Nachrichtenaufklärung (2002) sowie kress.de (2003) – die es übrigens allesamt heute, teils an einem anderen Ort, noch gibt. Auch Medienkritik – fürs Fernsehen, Musik und andere mehr – ist von Anfang an vertreten (Perlentaucher, 1000 Augen – unabhängige Fernsehkritik, phlow.net Magazin für Musik und Netzkultur, filmportal, DIENSTRAUM und viele, viele andere mehr).
Zu den ausgezeichneten und nominierten Einzelformaten zählen viele, die es – teils in abgewandelter oder umbenannter Form – heute noch gibt oder an die man sich noch gut erinnern kann. Hierzu zählen unter anderem Tagesschau.de (2001), MONITOR, ZDFHeute und ZDFReporter (2002), LexiTV (MDR), Quarks & Co – Unsere Stimme (WDR), und Spiegel – Netzwelt (2003) sowie Planet Wissen (2004).
Nie handelte es sich um eine bloße Kopie von Inhalten, die an anderer Stelle bereits in gleicher Form veröffentlicht wurden, denn sie wurden adaptiert und ergänzt. Dennoch überwiegt der Eindruck, dass traditionell für andere Medien entwickelte Formate in den Anfangsjahren fürs Internet mehr oder weniger angepasst wurden – so etwa im Kontext von Bewegtbild:
„Gleichwohl hatten die audiovisuellen Inhalte zu dieser Zeit noch keine eigenen Web-Formen entwickelt und stammten in der Regel aus anderen Medien-Genres und -Traditionen. Kurzfilme waren es bei Bitfilm, ans Fernsehen angelehnt waren es ein Jahr darauf die Kurz-Reportagen des 2002 prämierten Projekts ‚Borschts Welt‘. ‚Eine originäre Form von Web-TV‘ begründete die Jury ihre Entscheidung, ‚ein gelungenes Experiment, neue multimediale Unterhaltungsformen mit TV-Elementen für das Internet zu entwickeln‘. … Die Adaption anderer Medienherkünfte für das Internet prägte mithin die bewegten Bilder in dieser frühen Phase der multimedialen Web-Entwicklung, das Genre ‚Web-TV‘ galt als zukunftsweisend.“
Friedrich Hagedorn, Vera Lisakowski: Bilder, die bewegen – zur Qualitätsbeurteilung audiovisueller Angebote beim Grimme Online Award. In: Lars Gräßer / Aycha Riffi (Hrsg.): Einfach fernsehen? Zur Zukunft des Bewegtbildes. Schriftenreihe zur Digitalen Gesellschaft NRW; Band 2; München 2013, S. 103f.
Mehr als ein weiterer Ausspielort
Die Entwicklung des Mach- und Umsetzbaren im Netz fand jedoch immer auch ihren Widerhall in den eingereichten Arbeiten journalistischer Anbieter. Ein Beispiel aus dem Jahr 2004:
Europa im Mittelalter (ZDF)
„Der programmbegleitende Internet-Auftritt bietet einen multimedialen Einblick in die Zeit der Ritter und Burgen, Klöster und Kathedralen, der Pest-Epidemien und der Kreuzzüge. Das Angebot umfasst viele Hintergrundtexte, Bilderserien, Videos, eine Chronik, eine virtuelle Idealburg, Flash-Module über den Bau einer gotischen Kathedrale oder die Ankleideschritte eines Ritters, ein Turnier-Spiel und ein Quiz. Mit Hilfe des ‚Minnelied-Generators‘ können individuelle Briefe ins Mittelhochdeutsche übersetzt und in mittelalterlichem Layout gestaltet werden.“aus der GOA-Projektbeschreibung
Auftritte mit einer Vielfalt an Bildern, Lexika, Audio- und Videoeinspielern, Animationen, Spiel- und anderen Interaktionsangeboten nahmen zu – vielleicht auch manchmal überhand. Denn das, was damals neu und aufregend war, war genauso dem Zeitgeist und dem Geschmack (und schlimmstenfalls auch Sicherheitsbedenken …) unterworfen, wie alles andere, was irgendwann einmal modern war – und dann eben nicht mehr.
In der jeweiligen Zeit waren es allerdings Highlights, die gewürdigt wurden – gerne auch neue Formate. Beispiele hierfür: die bereits erwähnte erste prämierte Videoplattform „Bitfilm“ (2001), die erste prämierte Online-Doku-Soap „Borschts Welt“ und die erste prämierte Online-Community von „jetzt.de“ (beide 2002). Nicht jedes Aufblitzen einer Neuerung wurde sofort bedacht:
„Doch neue Ansätze und Formate im Web brauchen oftmals erst eine ‚Bewährungszeit‘. So bemerkte die Nominierungskommission im Jahr 2003: ‚Wenngleich neue Formate, etwa die so genannten Weblogs, noch keine signifikante Größe im deutschsprachigen Internet darstellen, regt die Nominierungskommission an, derartige Entwicklungen im Auge zu behalten.‘“Zitiert aus: grimme 2010 – 10 Jahre Grimme Online Award, S. 5
Dieser Einführung folgen drei weitere Teile zur Chronik des Grimme Online Award, in denen ein näherer Blick auf die medial immer vielfältiger werdenden Formate geworfen wird:
Teil 2: Auftritt: Blogs, Twitter, Apps & Co.
Teil 3: Die Welt mit Daten erklären
Teil 4: Multimedia, Scrollytelling und all das andere Wichtige, Schöne & Gute