Teil 4: Multimedia, Scrollytelling und all das andere Wichtige, Schöne & Gute
Die Bezeichnungen für aufwendige Websites, die viele Formate integrierten, mit innovativer Gestaltung aufwarteten, neue Formen der Bildsprache ausprobierten oder den Geschichtenverlauf auf neue Weise gestalteten, waren vielfältig. Ob
- Multimedia-Webangebot („Landshut77. Eine interaktive Dokumentation“, 2022, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland)
- Multimedia-Feature (Das Geschäft mit ukrainischen Flüchtlingen, 2023 / Business Insider Deutschland)
- Crossmedia-Projekt (Der Hoheneck Komplex, 2021, Mitteldeutscher Rundfunk mit mobyDOK medienproduktion)
- Mixed-Media-Geschichte (Das dunkle System, 2019, Spiegel online)
- Longread (Anatomie einer Katastrophe, 2020, Süddeutsche Zeitung)
- Scrollytelling (Jeder Sechste ein Flüchtling, 2015, SWR)
- Storytelling mit Bewegtbild (Baseballschlägerjahre, 2021, Christian Bangel in in Zusammenarbeit vom rbb mit ZEIT ONLINE; Mitwirkung: Berlin Producers)
- irgendwann mit 360°-Aufnahmen, VR (Der Kölner Dom in 360° und VR, 2017, WDR)
- oder AR (WDR AR 1933-1945, 2020, WDR) …
– im Laufe der fast zweieinhalb Jahrzehnte des Grimme Online Award gab es noch diverse andere Namen für die immer ausgereifteren Websites, die journalistische (und andere) Anbieter für ihre Themen und Anliegen konzipiert und umgesetzt haben.
Der neue (Ein-)Blick: 360°, VR & AR
Die meisten der in diesem Kontext nominierten und ausgezeichneten Arbeiten stammen vom WDR: ob ein Rundumblick beim Kölner Dom, ein Projekt zum Gedenken, Bergwerk und Tagebau, ein Blick in die Historie oder das Porträt eines außergewöhnlichen Menschen; ob vollständig mit 360°, VR und AR gestaltet oder nur mit Einbettungen ausgestattet: Der WDR hat es umgesetzt.
- Der Kölner Dom in 360° und VR (2017, WDR)
- Inside Auschwitz – 360° (2017, WDR)
- Erwin Hapke – Der Welten-Falter (2017, WDR)
- WDR Bergwerk in 360° und VR (2019, WDR)
- WDR AR 1933-1945 (2020, WDR)
- Braunkohle 360°: Mitten im Tagebau (2021, WDR)
Aber auch (unter anderen, versteht sich) der MDR (Mitteldeutscher Rundfunk mit mobyDOK medienproduktion) hat sich dieser Möglichkeiten bedient.
„Stollberg in Sachsen. Hier steht das größte und berüchtigtste Frauengefängnis der DDR. Im aufwendig gestalteten Crossmedia-Projekt „Der Hoheneck Komplex“ erzählen fünf frühere politische Gefangene von ihrer Zeit auf der Burg. Ihre Berichte sind eingebunden in eine Scrolldoku mit den Hintergründen und in eine 360°-Ansicht der einzelnen Räume, die sich auch mit einer VR-Brille erkunden lassen. So macht das Projekt interaktiv und atmosphärisch dicht ein dunkles Kapitel der DDR erfahrbar.“aus der GOA-Projektbeschreibung 2021
Scrollytelling
„Jeder Sechste ein Flüchtling“ (2015, SWR / online nicht mehr verfügbar) zählte zu den ersten Beiträgen in diesem neuen Format.
„In Meßstetten in Baden-Württemberg gibt es 5.000 Einwohner und 1.000 Flüchtlinge. Seit Oktober 2014 wird dort eine ehemalige Kaserne als Erstaufnahmestelle genutzt. Die multimediale Langzeitreportage ‚Jeder Sechste ein Flüchtling‘ von zwei Autorinnen des SWR begleitet detailliert den Prozess der Aufnahme, verdeutlicht die Sichtweisen von Flüchtlingen, Einheimischen und Politik und dokumentiert den intensiven Dialog und das Zusammenleben.“aus der GOA-Projektbeschreibung 2015
„Draußen – 24 Stunden mit einem Obdachlosen“ (2016, Weser-Kurier) war ein Pageflow-Projekt, für das die Autorin Kathrin Aldenhoff und die Fotografin China Hopson den obdachlosen Protagonisten eben diese 24 Stunden lang begleitet und seinen Tagesablauf in Fotos, Videos und Audios präsentiert haben.
Weitere Arbeiten in diesem Format sind neben vielen anderen:
- „Eigensinn im Bruderland“ (2020, Zentrum für Antisemitismusforschung TU Berlin / out of focus medienprojekte)
- “#StolenMemory” (2021, Arolsen Archives) oder
- „So bringen Biometrie-Geräte Afghanen in Gefahr“ (2023, BR)
„Little Berlin“ (2010, Axel Springer Akademie / online nicht mehr verfügbar) war ein Webspecial, das von Volontären erstellt wurde:
„Die Amerikaner nannten es „Little Berlin“, das 50-Einwohner-Dorf am Ende der Welt: Mödlareuth an der thüringisch-bayerischen Grenze, einst getrennt durch die Mauer, wurde zum Symbol der deutschen Teilung. 19 Volontäre der Axel Springer Akademie haben eine Woche in Mödlareuth verbracht, um die Einwohner ihre Geschichten erzählen zu lassen. Dabei werden in diesem Webspecial sowohl die journalistischen als auch die technischen Möglichkeiten des Internets voll ausgeschöpft: Crossmedial wird hier große Geschichte im ganz Kleinen erzählt.“aus der GOA-Projektbeschreibung 2010
Eine aufwendige Webreportage war „Ein Jahrhundertprojekt – die A30-Nordumgehung“ (2017, Neue Westfälische Zeitung), für die die Zeitung mittels Texten, Audio, Video (und sogar mit Drohnenflügen) einen umfassenden Eindruck in diese damals vieldiskutierten Baumaßnahme vermittelt hat. Die Website ist leider nicht mehr vorhanden, aber in einem ausführlichen quergewebt-Interview schildern die Macher die damaligen Arbeiten.
Ein Archiv in neuer Form ist das „RomArchive“ (2020, Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma):
„Zwischen Magazin und elaboriertem Archiv macht das „RomArchive“ die Künste und Kulturen der Sinti und Roma sichtbar. In zehn thematisch unterteilten Bereichen finden sich etwa 5.000 Objekte und Artikel, so miteinander verknüpft, dass sich die Nutzer*innen darin verlieren können. Als internationales und mehrsprachiges, von Sinti und Roma erstelltes Projekt bestärkt es die Minderheit und ist Wissensquelle für die Mehrheitsgesellschaft. So begegnet dieses einzigartige Angebot Stereotypen und Vorurteilen mit Fakten.“aus der GOA-Projektbeschreibung 2020
Und die „Hong Kong Diaries“ (2021, FreeTech – Axel Springer Academy of Journalism and Technology“ nennen wir zum Abschluss unter anderem deshalb, weil diese unter den widrigen Umständen entstehen mussten, die damals in der Kommunikation mit den Beteiligten in Hong Kong vorherrschten:
„Den Menschen in Hongkong werden von Peking alle Freiheiten genommen, Proteste unterdrückt. In den ‚Hong Kong Diaries‘ der FreeTech Academy nehmen acht Hongkonger die Nutzer*innen unter hohem persönlichen Risiko in ihre Lebenswirklichkeit mit. Ihre Tagebücher bestehen aus Fotos oder Chat-, Audio- und Videonachrichten. Manchmal zeigen sie Banales, meist aber berichten sie von ihren Gedanken und Sorgen oder von Begegnungen mit der Obrigkeit. Ein authentischer und intimer Einblick in eine Welt voller Repressionen.“aus der GOA-Projektbeschreibung 2021
Über die Entstehung und die Schwierigkeiten des Projektes sprachen die Beteiligten in einem lesenswerten quergewebt-Interview :
„Ich würde sagen, die mit Abstand größte Herausforderung war sicherzustellen, dass unsere Protagonisten, als wir sie gefunden haben, zu jedem Zeitpunkt in Sicherheit waren. Sie haben ein unglaubliches persönliches Risiko auf sich genommen. Es war bei jedem einzelnen von diesen acht Protagonistinnen und Protagonisten klar, dass man sich damit vielleicht eine Freiheitsstrafe einhandelt oder ähnliches.“quergewebt-Interview
Wir hoffen, der Einblick in die Entwicklung der ausgezeichneten und nominierten Formate des Grimme Online Awards hat Sie auf eine kleine interessante Zeitreise mitgenommen und Ihnen gleichzeitig die Vielfalt der anspruchsvollen und lohnenswerten journalistischen Angebote, die sich im Netz tummeln, gezeigt.
Die ersten drei Teile dieser Reihe finden Sie hier:
Teil 1: Aus der Chronik des Grimme Online Award: Mehr, neu, anders
Teil 2: Auftritt: Blogs, Twitter, Apps & Co.
Teil 3: Die Welt mit Daten erklären