Mitten unter uns …
Es sind nicht immer nur „die Anderen“. Und selbst wenn es so wäre, befänden sich „die Anderen“ nicht in einem klar begrenzten Raum, den man einfach nur meiden müsste und so nie mit beunruhigenden, beängstigenden, bedrohlichen Äußerungen, Taten und Situationen konfrontiert würde. Die Rede ist – wie könnte es bei unserem Jahresthema anders sein – von Menschen und Gruppen, die sich rassistisch, antisemitisch, ausgrenzend, antidemokratisch, rechtspopulistisch zu Wort melden oder auf diese Weise handeln.
Meist ist das, was sie sagen, so weh das tun mag, so beängstigend, wie das sein kann, vom Recht auf freie Meinungsäußerung abgedeckt – dann bleibt uns wenig mehr, als sie zu ignorieren oder eine andere (deutliche) Haltung danebenzustellen, um so zu zeigen, dass wir nicht einverstanden sind. Und manchmal gehen Worte und Taten deutlich über das Recht auf freie Meinungsäußerung hinaus und werden so zur handfesten Bedrohung. Dann müssen andere Stellen ihrer Pflicht nachkommen, diese mit Verweis auf geltende Gesetze zu unterbinden und zu sanktionieren.
Es sind aber eben nicht nur die „Anderen“. In der jetzigen Zeit geht es im Kontext der Pandemie und der Maßnahmen, die zu ihrer Eindämmung ergriffen werden, oft auch um die vermeintlichen Auswirkungen auf die Demokratie und die individuelle Freiheit. Und man liest oder hört des Öfteren von Situationen, in denen Familienmitglieder, Freunde, Arbeitskolleg*innen und andere mehr sich doch recht unerwartet äußern. Dies hat es „vor Corona“ gegeben, dies wird es auch danach (wann auch immer dies sein mag) geben. Es ist aber wieder einmal ein aktueller Hinweis darauf, dass solche Meinungen nicht nur bei „den Anderen“ vorhanden sind, sondern manchmal auch bei Menschen, die näher sind, als wir es vermutet hätten – was uns an der einen oder anderen Stelle zutiefst beunruhigt.
Um dieses Gefühl nicht einfach nur im Individuellen zu belassen, sondern ein waches Bewusstsein für unterschiedliche Strömungen in einer Gesellschaft zu schaffen, ist es unverzichtbar, dass in vielen Projekten und Initiativen, aber auch in kleineren und großen Medienformaten immer wieder ein Blick auf das geworfen wird, was Gesellschaft ausmacht. Für Medienangebote gilt dies ganz besonders: Auch abseits der großen tagesaktuellen Nachrichten muss auch über die Haltungen berichtet werden, die wenig mit dem jeweils eigenen Alltag zu tun haben, damit wir uns dann um Fragen kümmern können wie:
Was sollten wir hinnehmen, auch wenn es unserem eigenen Empfinden, unseren eigenen Werten widerspricht? Wogegen sollten wir Stellung beziehen? Was ist überhaupt alles um uns herum?
Kurzum: Es geht um das Gesamtbild.
Unter den Nominierten und Preisträgern des Grimme Online Award haben sich in den vergangenen Jahren einige Formate gefunden, die dieser Aufgabe in der einen oder anderen Ausprägung auf hervorragende Weise nachkommen.
Im Netz:
Das Facebook-, Instagram- und mittlerweile Podcast-Format Deutschland3000 ist ein Angebot von funk und wird gehostet von Eva Schulz und widmet sich in ganz unterschiedlichen Teilbereichen dem politischen Geschehen in Deutschland.
„Kompliziertes wird einfach erklärt, mit den Möglichkeiten von Social Media experimentiert und gezeigt, dass sich diese Plattformen dazu eignen, Geschichten zu erzählen und Wissen als Grundlage für eine fundierte Meinung zu vermitteln.“ (GOA 2018)
Das Angebot wendet sich an ein junges Publikum, aber „wir merken, dass auch Themen sehr gut ziehen, die gesamtgesellschaftlich diskutiert werden und bisher nur nicht aus junger Perspektive abgebildet wurden. Unsere erfolgreichsten Videos haben sich mit Geflüchteten in Deutschland beschäftigt oder mit Anerkennung von sozialen Berufen wie der Pflege“, sagte Eva Schulz im Quergewebt-Interview.
Mit dem Y-Kollektiv, ebenfalls ein funk-Angebot, „werfen junge Journalisten in Web-Dokus und Reportagen auf YouTube und Facebook ihren ganz persönlichen, authentischen und direkten Blick auf die Welt.“ (GOA 2018 ). Das Team macht seine Recherchen transparent und befindet sich im permanenten Austausch mit den Zuschauenden. Der Redaktionsleiter Dennis Leiffels war 2019 als Referent beim Social Community und sagte, dass es „Quatsch [sei], zu sagen, die junge Generation interessiere sich nicht für journalistische Inhalte.“ Vielmehr wünsche er sich, dass Journalistinnen stärker in Social Media vertreten seien, „um dort handwerklich gute und wichtige Informationen zu verbreiten, wo sie die Menschen, die sonst nicht erreicht werden können, tatsächlich erreichen“.
Das Projekt „Ein deutsches Dorf“ war die Abschlussarbeit von jungen Journalistinnen und Journalisten der Henri-Nannen-Schule. Sie haben zwei Wochen lang in der Nähe von Werpeloh im Emsland gelebt und dort hautnah das Leben beobachtet und multimedial dokumentiert. Dafür gab es 2018 einen Grimme Online Award in der Kategorie Kultur und Unterhaltung.
„So entstanden Geschichten über Gülle-Influencer auf YouTube, Schützenfeste oder Klischees über das Dorfleben. Dabei haben die Journalistenschüler auch die eigene Rolle reflektiert und Gegensätze wie Gemeinsamkeiten – nicht nur von jungen Menschen – auf dem Dorf und in der Stadt aufgezeigt.“ (GOA 2018).
Dabei, so hieß es in der Jurybegründung, blieben sie „auf Augenhöhe mit den Einwohnern des besuchten Dorfes Werpeloh. Die Journalisten bekennen sich zu ihren Vorurteilen gegenüber dem Dorfleben, reisen aber dennoch mit großer Sympathie in das Emsland. Und diese Sympathie bekommen sie von den Menschen zurück.“
Im Projekt „Deutschland spricht“ brachte Zeit online erstmals vor der Bundestagswahl 2017 Menschen zusammen, die sehr unterschiedliche politische Meinungen haben. Die „Plattform für politische Zwiegespräche“ existiert weiter und vermittelt auch zu Corona-Zeiten Gesprächspartner(innen), die gerade mithilfe der Gegensätze, die zwischen ihnen bestehen, ein vollständigeres Bild des gesellschaftlichen Klimas bei bestimmten Themen entstehen lassen. Den Grimme Online Award 2018 erhielt die Redaktion, weil sie sich „über die Grenzen des Journalismus hinaus mitten in die Gesellschaft hinein gewagt [hat]. In einer Zeit, in der politische Diskussionen zunehmend von Gereiztheit, Ab- und Ausgrenzung geprägt sind, war diese Kontaktbörse gegensätzlicher Standpunkte durchaus ein Wagnis.“
Auch der YouTube-Kanal von „STRG_F“ ist ein funk-Angebot. Die Journalistinnen und Journalisten recherchieren investigativ und legen diese Recherche als Teil der Reportage an. Auf diese Weise vermitteln sie ihrem Publikum, mit dem sie im stetigen Austausch sind, ihre Methoden und binden sie darüber hinaus auch in die Recherchen ein. Einen Grimme Online Award erhielt das Reportageformat des NDR unter anderem deshalb, weil – so die Jurybegründung – es „sich durch transparente, professionelle Rechercheprozesse und ein hervorragendes Gespür für interessante und herausfordernde Themen“ auszeichnet. „Sie bewegen sich zwischen Unterhaltung und Ernst, professioneller Distanz und menschlicher Nähe, dem Drang nach Objektivität und dem Bewusstsein für die eigene Subjektivität, der Neugier für Extremsituationen und dem Respekt vor den Grenzen jener, für die diese Extreme Alltag und Normalität sind. Sie blicken dabei in menschliche Abgründe, halten der Gesellschaft einen Spiegel vor und schauen da hin, wo es weh tut.“
2019 ging ein Grimme-Preis Spezial an das Team von Docupy. Ausgezeichnet wurde es für den Dreiteiler der Sendereihe Die Story: „Ungleichland – Reichtum, Chancen, Macht“ und das dazugehörige Online-Konzept, das als zukunftsweisend bezeichnet wurde. Es folgten #Neuland und davor noch #Heimatland. Gerade in letzterem ging es um Fragen von Heimat und Identität: „Wer ist deutsch? Wer gehört dazu? Und was wollen wir sein: Heimat für jeden? Teil von Europa? Oder eine starke Nation, die ihre Grenzen schließt? Wer ist das Volk? Was stiftet Identität? Welche Werte wollen wir verteidigen?“
Im Radio:
Ganz aktuell ausgezeichnet wurde ein Radiomagazin. Im September erhielt Anh Tran (Deutschlandfunk) den Deutschen Radiopreis für die Beste Newcomerin für ihre Reportage „Heimat tut weh“. In diesem Beitrag beschäftigt sie sich mit der Frage, „wie zerrissen ihre Heimatstadt Dresden ist“. In der Jurybegründung steht:
„Die Reporterin sucht Antworten auf Fragen, die sie auch persönlich berühren: Wie steht es um die demokratische Kultur in der AfD-Hochburg? Was bedeutet es, ‚Fidschi‘ genannt zu werden? Anh Tran ist in Dresden aufgewachsen, ihre Mutter kam aus Vietnam. Sie erzählt lebendig und authentisch, so gelingt eine Reise in die innere Verfassung einer Stadt, auf die blickt, wer die Entwicklung in Deutschland verstehen will.“
Wir freuen uns, dass Anh Tran am 4.11. bei uns sein wird.
Anh Tran hat in Jena und Hamburg Kommunikationswissenschaft und Journalistik studiert. 2019 hat sie beim Deutschlandradio und seinen drei Programmen – Deutschlandfunk, Deutschlandfunk Kultur und Deutschlandfunk Nova – volontiert. Für ihr Wochenendjournal „Mein Dresden – Heimat tut weh“ wurde sie mit dem Radiopreis 2020 als beste Newcomerin ausgezeichnet. Seit 2020 arbeitet sie als Redakteurin und Autorin für den Deutschlandfunk. Sie moderiert unter anderem die Sendung „Deutschland heute“ und produziert Reportagen.