Der Blick in die Geschichte – Zeitgeschichte international / Teil 2: Across the Atlantic

Veröffentlicht von as am

Nicht sonderlich überraschend: Die überwiegende Zahl der beim Grimme Online Award eingereichten Beiträge befasst sich, wenn die Inhalte über Deutschland hinausragen, mit Ereignissen und Entwicklungen in Europa. Einige werfen den Blick jedoch in die Ferne (wie wir mit Teil 1 der Serie „Zeitgeschichte: international“ mit den Beispielen Japan, China, Hong Kong ja auch bereits veranschaulichen konnten). Bevor wir uns in Bälde den Kapiteln Ost- beziehungsweise Westeuropa zuwenden (in denen wir annähernd zwanzig Projekte zur Auswahl haben), geben wir einigen Beiträgen die Bühne, die wesentlich weiter weg angesiedelt sind.

Wie zum Beispiel: einmal quer über den Atlantik.


„Hier kommt Alex“ (Mittelamerika)

Blog quergewebt, Dezember 2020

Um den Blick zuallererst in die etwas weiter zurückliegende Geschichte zu richten, beginnen wir mit der Reise von Alexander von Humboldt nach Venezuela, Kuba, Kolumbien, Ecuador, Peru und Mexiko, zu der er im Jahr 1799 aufgebrochen war. Stationen dieser Reise wurden im Jahr 2019, anlässlich des 250. Geburtstags des Forschers, vom RBB nachgezeichnet. Mit der Veröffentlichung des Projekts „Hier kommt Alex“ wurde im August 2019 begonnen:

„30 Tage lang haben Userinnen und User die Gelegenheit, Humboldts Abenteuer auf verschiedenen Kanälen zu begleiten – bis zu seinem 250. Geburtstag am 14. September 2019. Dazu präsentiert Radioeins Andrea Wulfs Graphic Novel ‚Die Abenteuer des Alexander von Humboldt‘ auf Instagram: In der ersten Insta-Novel Europas übernimmt Frederick Lau Humboldts Rolle, umgesetzt in aufwendigen Fotos, Illustrationen und Motion-Designs. Gleichzeitig können Nutzerinnen und Nutzer im Facebook-Messenger miterleben, was dem Forscher widerfährt. Und auf Radioeins vom rbb ist jeden Tag eine neue Reiseanekdote zu hören. So erzählt Humboldt auf Radioeins, Instagram und Facebook von seinen Erlebnissen und Erkenntnissen – und davon, welche Spuren er in unserer Gegenwart hinterlassen hat.“  

(Pressemeldung des RBB vom 12. August 2019: Radioeins multimedial: Die Amerika-Tour des Alexander von Humboldt mit Frederick Lau)

Auf verschiedenen Kanälen wechseln sich so Informationen zur Reise ab mit grafischen (auch animierten) Umsetzungen sowie integrierten Spielszenen.

„Reisen!“, so hieß es 2020 im Adventskalender vom quergewebt-Blog, „Ist momentan kaum möglich. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war es zumeist beschwerlich. Alexander von Humboldt hat es trotzdem getan, wie man bei ‚Hier kommt Alex‘ von Radio Eins nachverfolgen kann.“

(Aventskalendertürchen No.13 bei quergewebt)

Alexander von Humboldt, der „nicht zum Vergnügen, sondern für die Forschung“ reiste (so hieß es weiter), vermaß mit seiner technischen Ausstattung Höhen, Temperatur, Luftfeuchtigkeit und Magnetfelder:

„Er befuhr Flüsse, durchquerte die Wüste und bestieg jeden nur erdenklichen Berg – ein Wunder, dass er all das überlebt hat. … So kann man quasi live miterleben, wie er sein erstes Erdbeben oder einen Meteorschauer erlebt, sich im Dschungel verläuft oder die Füße an vulkanischen Berghängen aufreißt.

‚Hier kommt Alex‘ dokumentiert aber auch, dass sich Humboldt schon um 1800 Sorgen um die Umwelt und die Ausbeutung der Natur durch den Menschen machte – der erste Umweltschützer, wie seine Biografin Andrea Wulf schreibt.“

(Aventskalendertürchen No.13 bei quergewebt)

„Hier kommt Alex“ war eine Koproduktion von Radioeins und Chapter One, zusammen mit der Deutschen Welle und dem Magazin „Republik“ (Schweiz). Das Projekt wurde durch das Medienboard Berlin-Brandenburg und die Stiftung für Medienvielfalt Schweiz ermöglicht.

Quellen auf einen Blick:
Das quergewebt-Adventskalendertürchen No. 13 zu „hier kommt Alex“.
Die Pressemeldung des RBB zum Projektbeginn.
Die Story zu „Hier kommt Alex“ ist bei Instagram / Radio 1 noch zu finden.


Alma – ein Kind der Gewalt“ (Guatemala)

Screenshot, April 2013

Die vierzigminütige Webdoku über die damals 26-jährige Alma ist online leider nicht mehr verfügbar. Uns liegen nur noch die Beschreibung beim Grimme Online Award 2013 und ein Interview vor; dieses haben die Kolleginnen zur Nominierung des Projekts mit Alexander Knetig geführt, der das Projekt für ARTE redaktionell betreut hatte.

Im Intro des quergewebt-Interviews steht:

„Gruppendruck, das unbedingte Verlangen dazuzugehören, der Mangel an (Über-)Lebensbedingungen: Mit 15 Jahren trat Alma einer der brutalsten Gangs in Guatemala bei. Fünf Jahre erlebte sie die Hölle, eine Zeit voller Gewalt. In der vierzigminütigen Web-Dokumentation “Alma” lässt ARTE den Gangalltag in dem krisengebeutelten mittelamerikanischen Land in den Worten Almas nacherleben und schildert ihre unfassbare Geschichte in emotionaler Eindringlichkeit.“

(quergewebt-Interview von 2013)
Screenshot, April 2013

Man schaue Alma direkt ins Gesicht, hieß es in der #GOA2013-Beschreibung, während diese von ihrem Gangleben erzähle; und mit interaktiven Elementen werde der Zuschauer „ein Stück weit zum Regisseur“ und könne sich zahleiche Hintergrundinformationen erschließen.

Zur Motivation, das Projekt durchzuführen, sagte Alexander Knetig damals:

„Als uns die beiden Journalisten Miquel Dewever-Plana und Isabelle Fougère gemeinsam mit ihrem Produzenten, der Webagentur Upian, erstmals von Almas unfassbarer Geschichte erzählt haben, wussten wir sofort, dass wir von ihrem Leben und dem Alltag in Guatemala berichten wollten. Als öffentlich-rechtlicher Sender schien es uns dabei von Bedeutung, eine Geschichte aus einer häufig vergessenen Region der Welt zu thematisieren und sie in ihren natürlichen Kontext einzubetten. Und als Online-Journalisten war es uns wichtig, Almas extrem starke Worte in einem Format zu verarbeiten, das am besten jenes unbestimmte Gefühl zwischen Abneigung und Anziehung widerspiegelt, das der Zuseher empfindet, wenn er der jungen Frau aus Guatemala zuhört.“

(quergewebt-Interview von 2013)

„Alma“ erhielt im Jahr 2013 einen Grimme Online Award in der Kategorie Wissen und Bildung für die Redaktion und Gestaltung des Projekts.

Quellen auf einen Blick:
Die damalige Projektbeschreibung und Begründung der Jury beim Grimme Online Award 2013.
Das Interview mit Alexander Knetig beim quergewebt-Blog.



Auferstanden als Ruine (Haiti)

„‚Wo ist das viele Geld geblieben? Warum kommen die Ausländer immer nur kurz vorbei, und dann passiert doch nichts? Und die Regierung, warum kümmert die sich nicht um ihr Volk?‘ Manchmal kocht die Wut in Samantha Jean-Pierre für einen kurzen Augenblick hoch. Doch meistens braucht die 39-jährige ihre Kraft für andere Dinge. Alltägliche Dinge wie Wasser holen, Wäsche waschen, Essen kochen. Dinge, die bei uns selbstverständlich sind, die aber eine immense Kraft und Organisationstalent verlangen, wenn man in einem Zeltlager lebt so wie Samantha mit ihrem Mann und den vier kleinen Kindern. Zwei kamen auf der durchgelegenen Matratze unter der löchrigen Zeltplane zur Welt.“

(von der Website von „Auferstanden als Ruine“)
Screenshot, April 2015

Im Jahr 2015 wurde die Webreportage „Auferstanden als Ruine – Gewinner und Verlierer des Wiederaufbaus in Haiti“ für einen Grimme Online Award in der Kategorie Wissen und Bildung nominiert. In diesem Projekt ging es um die Jahre unmittelbar nach dem katastrophalen Erdbeben auf Haiti: um diejenigen, die ihr Zuhause verloren hatten – wie Samantha – und seitdem in Zeltlagern wohnten; aber auch um die Verwendung von und den Umgang mit Hilfsmitteln, die den Aufbau der betroffenen Region ermöglichen sollten. In Filmsequenzen und Interviews, Bildern, Grafiken und Texten entsteht der Einblick in das Missverhältnis zwischen einem bemerkenswerten Spendenaufkommen und den nach vier Jahren immer noch anhaltenden beklagenswerten Lebensumständen von vielen derer, denen damit eigentlich geholfen werden sollte.

„Was aufgebaut wurde, ist sichtbar: Der Flughafen, Banken, neue Hotels, Supermärkte und Plätze. Straßen wurden geteert, verbreitert und mit Solarlampen versehen. Ein Hauch der Moderne weht über der Hafenstadt, der Dauer-Verkehrsstau hat sich merklich entzerrt. Und alles, was sonst noch versprochen wurde? Die Häuser für die Opfer? ‚Niemand geht mehr davon aus, dass das noch gemacht wird‘, so Widmaier [Richard Widmaier, der Direktor des bekanntesten, unabhängigen Senders Radio Métropole].“

(von der Website von „Auferstanden als Ruine“)

Sandra Weiss und Florian Kopp lassen in ihrer Reportage Menschen vor Ort zu Wort kommen, die durch ihre recht unterschiedlichen Aufgaben die Kontraste (auch in der Wahrnehmung und Bewertung der Situation) verdeutlichen:

  • der Pfarrer im Armenviertel Fort National, an dessen Rand das Zeltlager Icare liegt, der sagt, um sinnvoll zu helfen, müsse man inmitten der Haitianer leben und mit ihnen herausfinden, was ihr Leben dauerhaft verbessert. Er spricht über die Notwendigkeit, den Menschen Arbeit zu geben.
  • Samantha Jean-Pierre redet von der Wichtigkeit, den Kindern Bildung zu ermöglichen: „Wenn sie nichts wissen, sind sie nichts, dann ist man niemand.“
  • Die Direktorin des UN-Entwicklungsprogramms in Haiti (UNDP), die zum Zeitpunkt der Entstehung der Webreportage erst seit einigen Monaten im Land war, erläutert die Schwierigkeit, mit Hilfsmitteln zu arbeiten, die Jahr für Jahr geringer würden: „2010 hatten wir eine Milliarde Dollar zur Verfügung, im vergangenen Jahr nur noch 60 Millionen.“ Oder die Tatsache, dass neuen Bauten das Problem im Weg steht, dass Besitzverhältnisse der zu bebauenden Flächen einfach nicht geklärt werden können.

Manche Positionen wurden im Text einander unmittelbar gegenübergestellt und verdeutlichen so auch die Frustration:

„Der damalige Premierminister Jean Max Bellerive erinnert sich wütend an die Sturheit mancher Hilfsorganisationen: ‚Eine wollte unbedingt ein Krankenhaus bauen, wenige Blocks neben einem öffentlichen, das nur hätte repariert werden müssen‘, sagt er. ‚Ich habe es ihnen verboten, und als ich nach ein paar Tagen wiederkam, hatten sie trotzdem angefangen.‘ Die NGOs haben das anders in Erinnerung: ‚Vom Staat kam keine Orientierungshilfe, und das war ein Riesenproblem, denn die meisten Helfer hatten keine Ahnung von den Gegebenheiten in Haiti‘, sagt Olivier Le Gall vom Schweizerischen Roten Kreuz. ‚Spender und Medien bauten enormen Druck auf; alle wollten möglichst schnell Ergebnisse sehen‘, erinnert er sich. ‚Das führte zu vielen Fehlentscheidungen‘.“

(von der Website von „Auferstanden als Ruine“)
Screenshot, April 2015

Dies sind nur wenige Ausschnitte aus dem Gesamtprojekt. In ihm finden sich eine Fülle von Zahlen, Daten, Fakten, Hinweisen zu den Spendensummen und ihrer Verausgabung, zum Stand des Wiederaufbaus und den Fehlern / Fehleinschätzungen, die damit verbunden waren. Aber auch diejenigen werden benannt, die vom Aufbau profitiert haben und genau im Gegensatz dazu auch die, die noch vier Jahre nach dem Beben in Zeltlagern ohne Aussicht auf Verbesserung lebten.

Im quergewebt-Interview von 2015 sagte Sandra Weiss zur Motivation, sich diesem Thema zu widmen:

„Beide [Florian Kopp und sie selbst] waren wir nach dem Beben in Haiti, weil es ja in unser Berichtsgebiet fällt. Das Ausmaß der Zerstörung hat uns beeindruckt, aber auch die massive Hilfe. Das war wie eine Lawine! Wir haben beschlossen, dass wir an dem Thema dranbleiben wollen, und zwar dann, wenn alle anderen längst zum nächsten Katastrophenschauplatz weitergezogen sind.“

Zur Berichterstattung aus Krisengebieten sagte sie, der „Katastrophen-Journalismus“ folge der gleichen, kurzfristigen Logik wie die Katastrophenhilfe. Letztlich sei beides ein Zeichen unserer modernen, hektischen und unsicheren Zeit. „Wer kann und will noch langfristig planen? Wen interessiert noch Relevanz, wenn alle nur um Reichweite buhlen?“ Das Problem sei, dass man so aus dem Blick verliere, wohin es eigentlich gehen solle.

„Den Luxus des Innehaltens müssen wir uns als Gesellschaft und als Journalisten aber gönnen, denn sonst sind wir nur noch Getriebene in einem aufgewühlten Meer einer letztlich sinnlosen Betriebsamkeit.“

Quellen auf einen Blick:
Die Projektbeschreibung von „Auferstanden als Ruine“ beim Grimme Online Award 2015.
Das Interview mit Sandra Weiss beim quergewebt-Blog.
Die Webreportage „Auferstanden als Ruine“.