Zeitreise mit der Straßenbahn
Es muss nicht immer Internet sein: Beim Kölner Anbieter „Timeride“ gibt es Reisen in die Geschichte, mit der VR-Brille, aber vor Ort. Bis zum 16. Oktober läuft in Köln noch die „Deutschland-Zeitreise“, sonst kann man dort in einer Straßenbahn in die 1920er Jahre reisen oder eine Stadtführung mit VR-Brille buchen. Erarbeitet werden die Angebote, die sich zwischen Unterhaltung und Bildung bewegen, von einem Team aus Historiker*innen und 3D-Artists – so wie Christine Krause und Jonas Blum, die hier von ihrer Arbeit berichten.
„Alltagsgeschichte ist total unterschätzt“, sagt Christine Krause, „ich finde sie sogar interessanter als Politikgeschichte“. Und genau diese Alltagsgeschichte und -geschichten recherchiert die Historikerin für „Timeride“, einen Anbieter von Virtual-Reality-Touren in verschiedenen Städten mit Sitz in Köln. Die Alltagsgeschichte bereitet in der Recherche aber auch besondere Probleme, denn heute gibt es keine Zeitzeug*innen mehr und während die wichtigen Ereignisse oft beschrieben sind, wurde das vermeintlich Unwichtige nicht erfasst. Gab es Regenrinnen? Womit spielen die Kinder auf der Straße? Welche Plakate hingen an den Wänden? Solche Fragen stellt unter anderem Jonas Blum. Er ist einer der rund 20 Entwickler, die aus den Unterlagen der Historiker*innen und auf Basis eines alten Katasterplans die Häuser am Computer nachbauen. „Welche Farbe hatte das Gebäude?“, das sei eine häufig von ihm gestellte Frage, so Blum, „die Fotos sind schwarz-weiß, die Städte waren aber farbig“.
Bei der Fahrt durch Köln sitzen die Besucher*innen mit 360-Grad-Brillen in einem nachgebildeten historischen Straßenbahnwagen, wo der Straßenbahnfahrer Pitter ganz nebenbei nicht nur eine Stadtführung zwischen Alter Markt und Neumarkt macht, sondern auch noch eine dringende Speziallieferung für die Hutmacherin Tessa übernimmt. Die Straßenzüge aus dem Jahr 1926, also vor den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs, sind dabei virtuell in vielen Details rekonstruiert.
Insgesamt vier Historiker*innen recherchieren für die Touren, die es inzwischen in fünf Städten gibt. Neben Büchern, Zeitungsarchiven, Fotodatenbanken natürlich auch im Internet. „Foren werden oft belächelt, aber sie sind Gold wert für die Recherche“, erzählt Christine Krause begeistert, „über ein Liebhaberforum findet man dann ein Video mit drei Klicks, wo jemand genau so eine Straßenbahn fährt und man sieht, wie die Handbewegungen sein müssen.“ Doch nicht für alles aus der Vergangenheit lassen sich Belege finden. So wurde der Vorkriegs-Zustand des Hauptbahnhofes oft fotografiert – allerdings immer aus einer Perspektive. Wie es dahinter aussah oder in den Gassen an der Seite, ist nicht belegt. Für eine Vorbeifahrt mit der Straßenbahn braucht man aber auch diese Ansichten, denn die Gäste können sich jederzeit umsehen. „Man muss teilweise mit Referenzen arbeiten, um das historische Stadtbild zu rekonstruieren“, erklärt Christine Krause. Für „Timeride“, das sich als ein Edutainment-Angebot begreift, ist aber das Erlebnis für die Besucher*innen wichtig, die in das Lebensgefühl der Zeit eintauchen sollen. „Man überlegt, ob man eine Rekonstruktion vertreten kann, und versucht dabei, so genau zu sein wie möglich.“ Als Historikerin kann Krause einschätzen, wie es ausgesehen haben könnte – und wie nicht. Denn auch wenn es vermeintliche Belege gibt, muss das nicht der Wahrheit entsprechen.
„Ein Historiker hat sein Handwerkszeug und kann Quellen interpretieren. Man muss die Absicht der Abbildung oder Beschreibung einordnen können, oft sind sie zu schön und übertrieben“, so Krause.
In enger Zusammenarbeit mit den Entwicklern entsteht innerhalb von neun bis zwölf Monaten eine neue Experience. Mithilfe eines Baukastensystems wird jedes einzelne Haus zunächst grob zusammengesetzt und dann anhand des Konvoluts von historischen Bildern und den Erklärungen der Historiker*innen ausgestaltet. „Es gibt verrückte Häuser, die unterschiedliche Stile mischen“, berichtet Jonas Blum, „aber mit jedem Bauteil, was wir anpassen, wächst auch unsere Bibliothek.“ Dabei muss immer abgewogen werden, wie exakt die Darstellung dem historischen Vorbild entsprechen muss. „Wenn zum Beispiel ein Gebäude-Detail ganz nah an der Route ist, wenn man wirklich draufguckt, dann muss es perfekt sein“, so Blum. Die Fenster in der obersten Etage werden also nicht ausgeschmückt, denn diese Perspektive können die Passagiere nicht einnehmen, die Ladenlokale im Erdgeschoss hingegen sind sehr detailreich.
Was für die Straßen gilt, muss auch für die gesamte Geschichte gelten. „Eigentlich streicht man viel“, bedauert Christine Krause, „man hat so viel recherchiert, was dann nicht erzählt wird, weil man es so komplex, wie es sein müsste, gar nicht abbilden kann“. Was entstehen soll, ist ein Gesamterlebnis aus der 15-minütigen Fahrt in der virtuellen Welt und einer Einführung in einem Kino und einem Hutmacherladen vorab. Politische Ereignisse der Zeit bilden den Hintergrund für die Rahmenhandlung, die erzählte Geschichte transportiert eine Atmosphäre – und nebenbei Wissen über die Historie. Die Gäste goutieren es, einige kommen sogar mehrfach. Aber wie ist es für Christine Krause, wenn sie die virtuelle Vergangenheit das erste Mal sieht? „Toll! Man macht die Vergangenheit lebendig und baut ein eigenes Stück Geschichte im Jahr 1926.“
Von: Vera Lisakowski. Dieser Beitrag erschien zuerst in der Zeitschrift kultur.west.